Presse

 


Badische Zeitung vom Freitag, 26. September 2003

Erster Prozess um Grundsicherung: Nina B. glücklich
Vergleich von Stadt und Klägerin am Verwaltungsgericht / Gesetzgeber muss nachbessern / 655 Menschen trotzdem Sozialfälle

Das Freiburger Verwaltungsgericht hat jetzt erstmals einen Fall verhandelt, bei dem es um das seit 1. Januar geltende Grundsicherungsgesetz ging. Der Streit zwischen Stadt und einer Klägerin endete mit einem Vergleich. Nun bekommt Nina B. (Name ist der Redaktion bekannt) doch die neue Grundsicherung: Nachdem ihr Anwalt Oliver Kloth nicht locker gelassen hatte und nach der ersten Absage durch das neue Grundsicherungsamt bis vors Verwaltungsgericht gezogen war, hat dieses nun entschieden, dass die Frau rückwirkend ab Mai 2003 Leistungen erhält. "Der Vorsitzende Richter hat Augenmaß bewiesen", freute sich Kloth.

Das Freiburger Amt für Grundsicherung hatte den Antrag im Mai zunächst abgelehnt, da die Frau - die keine Beine mehr hat und nach einem Schlaganfall kaum noch sprechen kann - beim Arbeitsamt als arbeitssuchend gemeldet war. Grundsätzlich können indes nur solche Menschen Grundsicherung beantragen, die dauerhaft voll erwerbsgemindert sind.

Nachdem die Widerspruchsstelle diesen Bescheid als "bedauerliches Versehen" gewertet hatte, war es das Auto, das einen Anspruch verhinderte. Sein Wert war vom Amt auf 4500 Euro taxiert worden, die gesetzliche Vermögensfreigrenze liegt aber bei 2915 Euro (für Paare). "Es sind während des Verfahrens Unterlagen vorgelegt worden, die, wenn sie schon vorher vorgelegt worden wären, nicht zu einer Absage durch das Amt geführt hätten", meint hingegen Rathaussprecherin Edith Lamersdorf. Dessen ungeachtet hatten Nina B. und ihr Mann das Auto im Mai verkauft. Der Richter setzte seinen Wert zum Zeitpunkt der Antragstellung auf genau 2915 Euro fest, womit das Paar - beide lebten nach Angaben des Anwalts in der vergangenen Zeit zusammen von monatlich 563,30 Euro - nun durch die Grundsicherung rund 450 Euro pro Monat mehr hat.

Mit der Grundsicherung will der Gesetzgeber die verschämte Armut in Deutschland bekämpfen: Möglichst viele Menschen sollen von der Sozialhilfe - bei der immer auch die Angehörigen zur Berechnung hinzugezogen werden - in die Grundsicherung überführt werden. Doch: Von den 978 Menschen, deren Anträge bewilligt worden sind, erhalten 655 (67 Prozent, vor einem halben Jahr waren es noch 50 Prozent) zusätzlich noch ergänzende Leistungen aus der städtischen Sozialhilfe, wenn es etwa um besondere private Härten wie Pflegebedürftigkeit, Hilfs- und Haushaltsmittel oder Kleidung geht.

Wegen der vielen Fälle, in denen die komplette Übernahme in die Grundsicherung gescheitert ist, hatten Uwe Würthenberger, Abteilungsleiter beim Sozialamt, und Patricia Renard, die Leiterin des Grundsicherungsamts, gefordert (wir berichteten), dass das Gesetz nachgebessert werden muss. Dies hatten auch der baden-württembergische Städte- und Landkreistag in einem Papier gefordert, das über das Innenministerium an den Bund weiter geleitet wurde. Einen Entwurf über eine Änderung des Gesetzes gibt es bislang nicht.

Beim Freiburger Grundsicherungsamt sind seit November vergangenen Jahres 3408 Anträge eingegangen, wovon 2634 bearbeitet und 1656 abgelehnt worden sind.
 


Badische Zeitung vom Freitag, 9. Mai 2003

Probleme mit der Grundsicherung
Gesetz muss nachgebessert werden / 1300 Anträge abgelehnt
Von unserem Mitarbeiter Lars Bargmann

Mit dem 1. Januar 2003 hat Deutschland ein neues Gesetz, das Grundsicherungsgesetz (GSiG). Es sollte vor allem die verschämte Armut bekämpfen, also verhindern, dass Bedürftige keine Sozialleistungen einfordern, weil das die Gefahr barg, dass Angehörige finanziell in Anspruch genommen werden. Doch nun, vier Monate nach der Einführung, zeigt sich, dass das GSiG heftige Geburtswehen hat: "Das Gesetz ist gut gemeint, muss aber deutlich nachgebessert werden", so Uwe Würthenberger, Abteilungsleiter für Hilfe in Notlagen beim Sozialamt.

Die überraschende erste Bilanz des neuen Gesetzes: In Freiburg bekommt rund die Hälfte aller Menschen, die Leistungen aus der Grundsicherung erhalten - das sind derzeit 650 - zusätzlich ergänzende Sozialhilfe. Also genau das, was die Grundsicherung eigentlich vermeiden sollte. Denn der Gesetzgeber wollte vor allem die verschämte Armut angehen. Bei der Grundsicherung gibt es - anders als bei der Sozialhilfe - für Angehörige einen Freibetrag von 100 000 Euro, bevor sie zur Finanzierung herangezogen werden können.

Das neue Grundsicherungsamt hatte seit November mehr als 1950 Anträge zu bewältigen, davon mussten die Mitarbeiter (12,5 Stellen) rund 1300 ablehnen. Darunter auch den kuriosen Fall einer Frau, die keine Beine mehr hat, nach einem Schlaganfall auch kaum noch sprechen kann, aber nach Angaben des Grundsicherungsamts beim Arbeitsamt arbeitssuchend gemeldet ist und deswegen keine Grundsicherung bekommen könne. "Zuerst habe ich gelacht, dann fand ich die Entscheidung einfach skandalös", erklärt Rechtsanwalt Oliver Kloth, der die Frau vertritt. Kloth legte Widerspruch ein. Die Widerspruchsstelle bewertete die Ausführung des Amts als "bedauerliches Versehen". Trotzdem lehnte sie den Widerspruch ab, da seine Mandantin ein Auto besitze, dessen Wert die Vermögensfreigrenze (für Ehepaare 2915 Euro, siehe Infobox) überschreite. Diese Grenze ist ein zweites Problem: Stellt ein Angehöriger der Mandantin ein Fahrzeug zur Verfügung, bekommt sie Grundsicherung, läuft der Wagen auf ihren Namen, geht sie leer aus. "Die Vermögensfreigrenze ist viel zu gering", kritisiert auch Grundsicherungsamtschefin Patricia Renard.

So kommt es zuweilen auch zu dem bitteren Prozedere, dass Anträge von eigentlich Berechtigten abgewiesen werden müssen, obwohl diese nur Geld für die eigene Bestattung angespart haben. Außerdem sei das Gesetz, so Renard weiter, auch deswegen problematisch, weil es kein Ermessen und keine Härtefälle kenne. Mit nur acht Paragrafen dürfte das Grundsicherungsgesetz auch eines der kürzesten der Republik sein.

Ende Mai trifft sich eine Arbeitsgruppe mit Vertretern des Städte- und Landkreistages, um Nachbesserungsanträge an die Regierung zu formulieren.


Junge Welt vom Dienstag, 20. Juni 2000

Bei Versammlungen Ruhe erste Bürgerpflicht?
jW sprach mit Oliver Kloth. Der Rechtsanwalt verteidigt in Freiburg einen Antirassisten
Interview: Martin Höxtermann

F: Am Montag fand vor dem Freiburger Landgericht die Berufungsverhandlung eines 45jährigen Antirassisten statt, der bei einem CDU-Infoabend gegen die doppelte Staatsbürgerschaft im Frühjahr letzten Jahres durch Zwischenrufe aufgefallen war. Die CDU hatte die Veranstaltung aufgrund der lautstarken Proteste gegen ihre ausländerfeindliche Hetzkampagne abgebrochen.

Gegen acht Antirassisten ergingen Strafbefehle wegen Nötigung und Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz. In der ersten Instanz wurden alle Buh-Rufer schuldig gesprochen und zu Geldstrafen zwischen 300 und 900 Mark verurteilt.

F: Laut höchstrichterlicher Rechtsprechung dürfen nicht an jedem Ort und zu jeder Zeit Parolen gerufen oder gepfiffen werden. Welche Schranken auferlegt der Bundesgerichtshof (BGH) äußerungswilligen Zeitgenossen?

Der BGH ist der Ansicht, daß nach Paragraph 240 des Strafgesetzbuches auch derjenige zu bestrafen ist, welcher Veranstaltungen durch den Gebrauch seiner eigenen Stimme mit dem Ziel stört, diese zum Abbruch zu zwingen.

F: Eine politische Entscheidung?

Mit Sicherheit verlässt das Strafgericht unpolitischen Boden und den Bereich des verfassungsrechtlich Zulässigen. Es legt diesen Paragraphen dahingehend aus, dass das bloße Kundtun einer Meinung mit Sanktion belegt wird. Unsere Verfassung legt fest, dass eine Tat nur bestraft werden kann, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor sie begangen wurde.

F: Erfüllt eine lautstarke Meinungsäußerung auf einer Versammlung bereits den Tatbestand einer Nötigung?

Das hängt von der Auslegung der obergerichtlichen Rechtsprechung ab. Sie definiert Gewalt als den »physisch vermittelten Zwang zur Überwindung eines geleisteten oder erwarteten Widerstands«. Hierunter konnte bis vor kurzem bei erweiternder Auslegung selbst die bloße körperliche Anwesenheit bei einer Protestkundgebung verstanden werden. Doch das Bundesverfassungsgericht bezeichnete in seiner Sitzblockadeentscheidung vom 10. Januar 1995 diese Auslegung des Gewaltbegriffs als verfassungswidrig, weil der Grundsatz »nulla poena sine lege« - keine Strafe ohne Gesetz - verletzt sei. Es bleibt für meinen Mandanten die Hoffnung, dass das BVG nicht nur Sitzblockaden, sondern auch lautstarke Meinungsäußerungen als nicht mehr vom Gewaltbegriff des Nötigungsparagraphen umfasst ansieht.

F: Wie soll im einzelnen festgestellt werden, ob jemand eine Versammlung sprengen oder einfach nur seine Meinung kundtun will?

Für die Feststellung des »bösen Willens« eines Täters muss sich das Gericht äußerlich feststellbarer Umstände bedienen. Im beurteilten Fall reichte dem Gericht u. a. die Inaugenscheinnahme des Videos, welches von der Schutzpolizei anläßlich der Veranstaltung aufgenommen wurde. Aus der Art der Meinungsbekundung und der Lautstärke wurde der Rückschluß gezogen, daß »gesprengt«, nicht diskutiert werden sollte. Fraglich ist, woraus das Gericht schlussfolgerte, dass mein Mandant das Ziel verfolgt hätte, den Abbruch der Veranstaltung gewaltsam zu erzwingen.

F: Darf bei politischen Versammlungen künftig nur noch artig geklatscht werden, um kein Strafverfahren zu riskieren?

Die derzeit herrschende Rechtssprechung ist in ihrer restriktiven Form nicht daran interessiert, das Kundtun abweichender Meinungen in der oben beschriebenen Form auf öffentlichen politischen Veranstaltungen zu fördern. Die Devise heute wie vor 200 Jahren offenbar: »Ruhe ist die erste Bürgerpflicht«. Tatsächlich riskiert derjenige, welcher sich zu seinem politischen »Gegner« wagt und dort durch Stören auffällt, sehr schnell ein Verfahren wegen Nötigung und Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz.